Ein sehr informativer Artikel zur chinesischen Bevölkerungsentwicklung von Wolfgang Taubmann. Er enthält viele weiterführende Links und betrachtet die Bevölkerung Chinas in ihrer Entwicklung seit der Han-Dynastie im Jahre null bis heute.
Die Bevölkerungsentwicklung des heute bevölkerungsreichsten Landes der Erde nachzuzeichnen ist nicht leicht, da die Quellen der früheren Jahrhunderte sehr unzuverlässig sind. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden regelmäßige Zählungen durchgeführt, wenn auch deren Ergebnisse immer wieder politisch beeinflusst waren. Bevölkerungsdruck, ein Resultat aus hohen Bevölkerungszahlen und Versorgungsengpässen, ist jedoch in China kein neues Phänomen. Insbesondere die wachsende Bevölkerungsdichte in den Randgebieten des Vielvölkerstaates trug im 19. Jahrhundert zu Aufständen bei und beschleunigte damit letztlich die Zerrüttung des chinesischen Kaiserreiches.
Historische Entwicklung
Bereits um die Zeitenwende war die nordchinesische Ebene das Hauptsiedlungsgebiet der vermutlich 50 bis 60 Millionen Bewohner während der Han-Dynastie. Hatte sich seit dem 10. Jahrhundert der Bevölkerungsschwerpunkt immer mehr nach Südchina verlagert – um 1300 zu Beginn der Yuan-Dynastie wohnten vermutlich 80 Prozent der Einwohner im Bereich des Unterlaufs und südlich des Changjiang (Yangtse) -, so nahm in der Ming-Periode die Bevölkerung in der nordchinesischen Ebene wieder zu. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – etwa zur mittleren Kangxi-Zeit (1662 bis 1722) – ist nach langer Stagnation ein deutlicher Anstieg der Bevölkerung zu beobachten (Spence). Lebten um 1700 vermutlich um 100 Millionen Menschen in China, so waren es rund ein Jahrhundert später fast 300 Millionen (Handbuch der Verwaltungsgliederung der VR China, 1986 (auf Chinesisch). Während sich zwischen 1700 und 1800 die Ackerfläche nur knapp verdoppelte, trotz Neulanderschließungen entlang des Changjiang und Hanflusses und in Nordostchina, verdreifachte sich die Bevölkerungszahl. Im 18. Jahrhundert wanderten Chinesen trotz Einwanderungsverbots in die Mandschurei oder sie besiedelten die großen Flussläufe aufwärts. Aus den dicht besiedelten südost- und südchinesischen Provinzen Fujian und Guangdong (Kanton) wanderten Tausende von Bauern nach Taiwan; andere emigrierten nach Südost-Asien. Bereits damals führten Übernutzung und Abholzung zu schweren ökologischen Schäden wie etwa Bodenerosion. Bis 1850 stieg die Einwohnerzahl auf circa 413 Millionen, der ländliche Bevölkerungsdruck verschärfte sich also. Die Wanderungswellen erreichten im Verlauf des 19. Jahrhunderts Tibet und Xinjiang, das 1885 Provinz wurde. Die Migration nach Jilin und Heilongjiang verstärkte sich trotz des Einwanderungsverbots der Qing-Regierung. Taiwan nahm neue Einwanderungsströme auf; in Singapur sah sich die Qing-Regierung genötigt, 1873 ein Konsulat zu eröffnen, um eine gewisse Kontrolle über die etwa eine halbe Million Chinesen in Singapur zu haben (Spence). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzten auch die ersten großen Auswanderungen nach Amerika ein; Anstoß gaben die Goldfunde 1848/49 in Kalifornien.
Bevölkerungsentwicklung im 20. Jahrhundert
Trotz der Wanderungsströme hatte sich die Bevölkerungsverteilung in China im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht entscheidend verändert. 1935 – als zwischen 460 und 480 Millionen Menschen in China lebten – führte der Nestor der chinesischen Bevölkerungsgeographen, Hu Huanyong, den Begriff der „geo-demographic demarcation line“, eine imaginäre Linie zwischen Aihui (Heihe) in Nordost-Heilongjiang und Tengchong in West-Yunnan. Diese Linie teilt das Territorium Chinas etwa im Verhältnis 57 (westlich) zu 43 (östlich), die chinesische Bevölkerung wohnte jedoch 1935 zu 96 Prozent (1982: zu 94 Prozent) östlich dieser Linie (Hu Huangyong 1988, 24).
Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde, wie bereits im 19. Jahrhundert, erneut der hohe ländliche Bevölkerungsdruck bei begrenzter Fläche beklagt und von einer ökologischen Krise gesprochen, die sich in Bodenerschöpfung, Überschwemmungen, Entwaldung und Bodenerosion äußere (Spence). Seit Mitte der dreißiger Jahre hat sich die Bevölkerungszahl Chinas mehr als verdoppelt und die schon damals beklagten durchschnittlichen Dichtewerte sind von 48 auf heute 136 Einwohnern je Quadratkilometer gestiegen. Nach wie vor sagen aber solche Durchschnittswerte kaum etwas aus. In den am dichtesten besiedelten Regionen, etwa in der nordchinesischen Ebene, im Changjiang und Zhujiang Delta, in den südostchinesischen Küstensäumen und im Roten Becken, werden in einigen Kreisen Spitzenwerte von über 1.000 Einwohnern je Quadratkilometer verzeichnet, und Werte über 600 und 800 Einwohnern je Quadratkilometer sind häufig; dagegen sinken die Dichtewerte in den westlichen Provinzen auf unter zehn, soweit diese nicht überhaupt menschenleer sind.
Volkszählungen nach modernen Aspekten konnten erst nach Gründung der Volksrepublik China, erstmals im Jahr 1953, realisiert werden. Zensen wurden 1964, 1982, 1990 und 2000 wiederholt. Auch wenn durchaus von einer wachsenden Genauigkeit der Zensen ausgegangen werden kann, erscheinen manche sensible Daten bis heute politisch beeinflusst. Die 1953 festgestellte Bevölkerungsgröße (594,4 Millionen) lag um 100 Millionen über dem vorher angenommenen Wert. Dieses verstörende Ergebnis führte zu einem beginnenden Umdenken und war, trotz Diskontinuitäten der chinesischen Bevölkerungspolitik, der Beginn staatlicher Bemühungen, das Bevölkerungswachstum zu begrenzen.
Die chinesische Bevölkerungspolitik kann, zumindest was die Ergebnisse betrifft, als erfolgreich bezeichnet werden. Seit 1971 ist ein kontinuierlicher Rückgang von Geburtenrate und Kinderzahl pro Frau dokumentierbar. Betrachtet man beispielsweise die Raten der natürlichen Bevölkerungsbewegung zwischen 1980 und 2004, so ist der Einfluss der sinkenden Geburtenrate auf das Wachstum unverkennbar: Während die Sterberate in dieser Zeitspanne so gut wie unverändert zwischen sechs und sieben Promille lag, sank die Geburtenrate von maximal 23,3 Promille im Jahr 1988 auf 12,29 Promille 2004.
Allerdings ist die regionale demografische Entwicklung Chinas sehr uneinheitlich. So scheint es außer Frage, dass die Fertilität von ethnischen Minoritäten erheblich über derjenigen der Mehrheitsbevölkerung (Han-Bevölkerung) liegt. Auch verzeichnen ländliche Regionen eine deutlich höhere Fertilität, als die urbanen Regionen Chinas.
Die geringsten natürlichen Wachstumsraten zeigen, wie kaum anders zu erwarten, die drei regierungsunmittelbaren Städte Shanghai, Beijing und Tianjin, wobei Shanghai sogar einen Wert von – 0,95 Promille aufwies. Dagegen überschreiten die am wenigsten entwickelten Provinzen wie etwa Qinghai, Tibet, Guizhou, Ningxia oder Xinjiang deutlich die zehn Promille-Grenze.
Natürliche Bevölkerungsbewegungen in den chinesischen Provinzen
Binnenmigration existierte in der Volksrepublik bis in die späten 1970er Jahre fast ausschließlich als Folge staatlicher Maßnahmen. Insbesondere wurde von staatlicher Seite stets versucht, die Land-Stadt-Migration, die auch ideologisch als problematisch betrachtet wurde, einzudämmen. Dazu zählt etwa die ‚Landverschickung‘ von Millionen städtischer Kader und Jugendlicher während der Kulturrevolution 1966 bis 1976 zur ‚Umerziehung‘. Aber auch die Besiedelung der Nordprovinzen Xinjian, Innere Mongolei und Heilongjiang, als Antwort auf eine sowjetische militärische Bedrohung nach dem Bruch zwischen beiden Ländern in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, ist ein Beispiel für eine politisch induzierte Binnenmigration.
Erst seit 1978 hat sich die staatliche Kontrolle langsam abgeschwächt. Chinas marktwirtschaftliche Transition hat die Kontrolle der Migrationsströme zunehmend erschwert. Doch während die Binnenmigration heute mit geschätzten 80 bis 150 Millionen Personen einen enormen Strom vor allem in die Städte und den Küstensaum darstellt, ist die Abwanderung ins Ausland mit circa 500.000 Personen oder 0,39 Promille noch immer sehr gering. Wegen des enormen Migrationspotenzials ist eine Drohung Chinas mit einer Öffnung seiner Grenze ein nicht zu unterschätzendes internationales Druckmittel.
Ausblick
China wird auch in Zukunft mit erheblichen demografischen Problemen konfrontiert sein. Trotz des Rückgangs der Gesamtfertilität ist die Bevölkerung Chinas im 20. Jahrhundert kontinuierlich gewachsen und sie wird es, auf Grund des demographischen Trägheitseffektes, noch für einen erheblichen Zeitraum tun (Bevoelkerungswachstumsrate 2006: 0,59 Prozent). Nach den Ergebnissen der chinesischen Zensen lebten
1953: 594 Millionen,
1964: 695 Millionen,
1982: 1.008 Millionen
und im Jahr 2006: 1.314 Millionen Menschen in der Volksrepublik.
Chinas Bevölkerungszahl wird bis zum Jahr 2050 schätzungsweise noch auf 1,4 bis 1,5 Milliarden Menschen ansteigen und erst dann ein Maximum erreichen. Aus der Altersstruktur der Bevölkerung resultiert eine Zunahme des Arbeitskräftepotenzials von bis zu 250 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030. Arbeitsplätze für dieses riesige Heer von Erwerbspersonen zu schaffen, wird die entscheidende Herausforderung der chinesischen Wirtschaftspolitik sein.
Die strikte Ein-Kind-Politik, die auf dem land oder für minderheiten nicht oder nur eingeschränkt gilt, hat auch Auswirkungen auf die Geschlechterstruktur der Neugeborenen: Die traditionellen Knabenpräferenz führt, im Zusammenhang mit modernen Methoden der Pränataldiagnostik, zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses: Während das natürliche Geschlechterverhältnis von Neugeborenen etwa 1.050 Knaben zu 1.000 Mädchen beträgt, liegt dieses Verhältnis für ganz China bei 1.192 (Zensus 2.000) und kann regional sogar bis zu 1.350 männliche zu 1.000 weiblichen Neugeborenen betragen (südchinesische Insel Hainan).
Zu den Problemen mit Ernährung, Arbeitsplätzen und Wohnraum wird sich in den nächsten Jahrzehnten, dies ist die Kehrseite der Fertilitätsreduktion, eine erhebliche Altenlast gesellen. Der Anteil alter Menschen kann dann in Regionen, die eine strikte Ein-Kind-Politik durchsetzen konnten, auf bis zu 40 Prozent ansteigen. Dies wird gravierende Sozialprobleme, etwa vor dem Hintergrund eines in China noch kaum existierenden Systems von Alten- und Pflegeheimen, aufwerfen.
Literatur / Links
Pieter Bottelier, Aging China: The Demographic Challenge to China’s Economic Prospects (Washington Papers), Praeger Publishers 2005
Bevoelkerungsentwicklung in Provinzen und Staedten Chinas: http://www.citypopulation.de/China
China Population Information and Research Center, www.cpirc.org.cn
China Statistics Press, China Statistical Yearbook 2006 (engl. und chin.), Okt. 2006.
Encyclopedia Britannica, China, Population Growth (Historischer Ueberblick von 800 v. Chr. bis zur Moderne) http://www.britannica.com/eb/article-70991/China
National Bureau of Statistics in China: www.stats.gov.cn
Scharping, Th.: Bevölkerungsentwicklung und –politik, in: C. Herrmann-Pillath und M. Lackner (Hrsg.): Länderbericht China 1998 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Bd. 251), S. 358 – 375.
http://www.citypopulation.de/China.html
Spence, J. D.: Chinas Weg in die Moderne, München 2001.
Staiger, Brunhild / Friedrich, Stefan / Schuette, Hans-Wilm (Hrsg.) Das große China-Lexikon. Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur. Darmstadt 2003.
World Bank, China. Country Gender Review, 06/2002 http://www.worldbank.org.cn/english/content/gender-en.pdf
Stand: Oktober 2007
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Quelle: Berlin-Institut, Wolfgang Taubmann