Cixin Liu: Meister der chinesischen Science-Fiction
Als Ye Wenjie während der Kulturrevolution ihr erstes Signal ins All sendet, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Kettenreaktion auslöst, die vier Jahrzehnte später die Science-Fiction-Literatur revolutionieren wird. Der Mann, der diese Geschichte schreibt - Cixin Liu (刘慈欣) - arbeitet tagsüber als Ingenieur in einem Kraftwerk in Shanxi und verwandelt nachts seine Erfahrungen mit Chinas turbulenter Modernisierung in kosmische Epen.
2015 gewinnt Liu als erster Autor aus China den Hugo Award, den prestigeträchtigsten Preis der Science-Fiction. Plötzlich diskutieren Physiker über seine Theorien, IT-Manager debattieren seine Ideen in Foren, und Barack Obama empfiehlt seine Bücher. Was als nächtliche Fingerübung eines Provinzingenieurs begann, wird zum Phänomen der Weltliteratur.
Eine chinesische Antwort auf die großen Fragen
Cixin Liu - Ingenieur, Visionär, galaktischer Geschichtenerzähler (Offizielles Autorenbild von Li Yibo)
Die Trisolaris-Trilogie (地球往事, "Remembrance of Earth's Past") ist mehr als Science-Fiction - sie ist Chinas intellektuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der Zukunft der Menschheit. Die drei Sonnen (2008) beginnt mit der Kulturrevolution, als Rotgardisten Ye Wenjies Vater töten und sie zur zynischen Wissenschaftlerin machen, die bereit ist, die Menschheit zu verraten.
Das mathematische Dreikörperproblem wird zur Metapher für Chinas eigene Zerrissenheit: Wie soll sich eine Zivilisation verhalten, die zwischen unberechenbaren Kräften gefangen ist? Liu verwandelt abstrakte Himmelsmechanik in existenzielle Philosophie.
Der dunkle Wald (2008) präsentiert Lius berühmteste Idee: Das Universum ist ein "dunkler Wald", in dem jede Zivilisation ein bewaffneter Jäger ist. Diese "Dunkle-Wald-Theorie" ist mehr als Science-Fiction - sie reflektiert Chinas historische Erfahrung mit feindlicher Umwelt und das Trauma der "hundert Jahre der Demütigung".
Jenseits der Zeit (2010) führt die Geschichte über Jahrmillionen bis zum Ende des Universums. Die Protagonistin Cheng Xin verkörpert konfuzianische Tugenden - Mitgefühl, Harmonie - doch in einem unbarmherzigen Kosmos werden diese zu tödlichen Schwächen.
Liu schreibt nicht nur über Aliens, sondern über China: Wie soll sich eine jahrtausendealte Zivilisation in einer modernen, gefährlichen Welt behaupten? In einem Interview mit CGTN erklärt Liu, wie Science-Fiction die Entwicklung von Spitzentechnologie vorantreiben kann.
Zwischen harter Wissenschaft und chinesischer Philosophie
Liu ist Ingenieur, und das merkt man. Das Dreikörperproblem basiert auf realer Physik - Systeme wie HD 131399, ein echter Dreifachstern 320 Lichtjahre entfernt, zeigen die chaotischen Verhältnisse, die Liu beschreibt. Seine "Sophonen" - intelligente Teilchen zur Überwachung - sind spekulativ, aber physikalisch durchdacht.
Doch Liu verbindet westliche Naturwissenschaft mit chinesischen Denktraditionen. Seine Aliens sind nicht die individualistischen Eroberer amerikanischer Science-Fiction, sondern kollektive Wesen, die in Harmonie mit ihrer Umwelt leben müssen. Seine Zukunftsvisionen spiegeln konfuzianische Ideale von Hierarchie und Ordnung wider.
Die Kulturrevolution durchzieht alle seine Werke - nicht als historisches Detail, sondern als Trauma, das Generationen prägt. Liu zeigt, wie politische Katastrophen wissenschaftlichen Fortschritt zerstören und Menschen zu extremen Entscheidungen treiben können.
Die Renaissance der chinesischen Science-Fiction
Liu steht in einer Tradition, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht. Nach dem Sturz der Qing-Dynastie übersetzten chinesische Intellektuelle Jules Verne und H.G. Wells, hoffend, dass Wissenschaft China aus der Rückständigkeit führen würde. Die Kommunisten nutzten Science-Fiction als Propaganda für den technischen Fortschritt.
Die Kulturrevolution beendete diese Entwicklung brutal. Erst in den 1990ern entstand eine neue Generation von Autoren - die "drei Vier-Sterne-Generäle der Science-Fiction": Wang Jinkang, Han Song und Cixin Liu. Alle waren Ingenieure oder Wissenschaftler, alle schrieben "harte" Science-Fiction, alle verarbeiteten Chinas traumatische Modernisierung.
Liu wurde zum Superstar dieser Bewegung. Als Die drei Sonnen 2006 erschien, diskutierten plötzlich auch Nicht-SF-Leser seine Ideen. Manager großer IT-Firmen analysierten seine Theorien als Allegorien auf Chinas Wirtschaft. Die Literaturkritik, jahrzehntelang ignorant gegenüber Science-Fiction, musste sich mit diesem "Monster" auseinandersetzen, wie Liu es selbst nannte.
Mit dem Hugo Award 2015 wurde aus einem chinesischen Phänomen ein globales. Liu bewies, dass Science-Fiction keine westliche Domäne war - China hatte eine eigene, kraftvolle Vision der Zukunft. Im Gespräch mit dem britischen Physiker Jim Al-Khalili an der British Library erläutert Liu, wie seine monumentale Trilogie von der Kulturrevolution bis 18 Millionen Jahre in die Zukunft reicht - „eine der ambitioniertesten Science-Fiction-Arbeiten, die je geschrieben wurden".
Jenseits der Trilogie: Ein vielseitiges Œuvre
Lius Bandbreite zeigt sich in seinen anderen Werken. Die wandernde Erde (流浪地球) sammelt 11 Erzählungen, die 2019 zum erfolgreichsten chinesischen SF-Film wurden. Die titelgebende Geschichte - die Erde wird zum Raumschiff, um einer sterbenden Sonne zu entkommen - zeigt Lius Vorliebe für gigantische Ingenieursprojekte und kollektive Lösungen.
Kugelblitz (球状闪电) erzählt von einem Mann, der seine Familie durch Kugelblitze verliert und sein Leben deren Erforschung widmet. Es ist Lius persönlichstes Werk - über Obsession, Verlust und die Grenzen des Verstehens.
Die kompakte Novelle Weltenzerstörer zeigt Liu als Meister der konzentrierten Form: Ein kosmisches Wesen "erntet" Planeten wie Früchte. In wenigen Seiten entfaltet Liu eine Geschichte über Ressourcenverbrauch und kosmische Perspektiven.
Zum Chinesisch lernen bieten die Originalausgaben einen unterhaltsamen Zugang zu modernem wissenschaftlichem Chinesisch - von 三体 (sān tǐ, "drei Körper") über 质子 (zhìzǐ, "Proton") bis 宇宙社会学 (yǔzhòu shèhuìxué, "kosmische Soziologie").
Liu schreibt nicht nur Unterhaltung - seine Werke sind Schlüssel zum Verständnis Chinas. Sie zeigen, wie eine aufstrebende Supermacht über Wissenschaft, Macht und Verantwortung denkt. Seine Charaktere sind keine amerikanischen Individualisten, sondern Menschen, die zwischen persönlichen Wünschen und kollektiver Verantwortung zerrieben werden. Die Dunkle-Wald-Theorie reflektiert chinesische Außenpolitik: In einer unsicheren Welt ist Misstrauen rational, Offenheit gefährlich. Lius Zukunftsvisionen zeigen eine Welt chinesischer Werte - Hierarchie, Langfristigkeit, kollektive Entscheidungen. Cixin Liu zu lesen bietet etwas Seltenes: einen authentischen Blick auf chinesische Denkweise, verpackt in Geschichten von universeller Bedeutung und nicht China als exotische Kuriosität zu sehen, sondern als gleichberechtigte Stimme im globalen Gespräch über die Zukunft der Menschheit.