Judo

柔道 (Jūdō)

Der sanfte Weg – Siegen durch Nachgeben

In einer Zeit, in der brutale Jūjutsu-Techniken das feudale Japan prägten, wagte ein junger Gelehrter einen revolutionären Schritt: Kanō Jigorō 嘉納治五郎 (1860–1938) entfernte die tödlichen Techniken, betonte moralische Entwicklung über rohe Gewalt und verwandelte eine Kriegskunst in einen Bildungsweg. Am 11. Juni 1886 stellte er seine neue Kampfkunst auf die Probe: In einem historischen Turnier traten 15 seiner Kōdōkan-Schüler gegen die renommierte Totsuka-Schule an. Ergebnis: 13 Siege, 2 Unentschieden, 0 Niederlagen. Judo 柔道 – der „sanfte Weg" – hatte sich als überlegen erwiesen, nicht durch Brutalität, sondern durch Prinzipien: Seiryoku-Zen'yō 精力善用 (maximale Effizienz bei minimalem Kraftaufwand) und Jita-Kyōei 自他共栄 (gegenseitiger Wohlstand). Heute praktizieren über 20 Millionen Menschen weltweit Judo. Es ist die erste asiatische Kampfkunst, die olympisch wurde (1964, Tōkyō), und sein Gründer ziert japanische Geldscheine. Doch das wahre Erbe liegt nicht in Medaillen, sondern in Kanōs Vision: Eine Kampfkunst, die Körper und Geist formt.

Kanō Jigorō: Der Mann, der Jūjutsu neu erfand

Kanō Jigorō war kein geborener Krieger. Als schmächtiger, intellektueller Junge wurde er in der Schule gemobbt. Mit 17 Jahren begann er, Jūjutsu zu lernen – nicht aus Tradition, sondern aus Notwendigkeit. Doch was er fand, war mehr als Selbstverteidigung: Es war eine Lebensphilosophie.

Die frühen Jahre: Jūjutsu-Studium (1877–1882)

Kanō studierte bei mehreren Jūjutsu-Meistern:

  • Tenjin Shin'yō-ryū 天神真楊流 unter Fukuda Hachinosuke und Iso Masatomo – Fokus auf Atemi-waza (Schlagtechniken) und Katame-waza (Bodenkampf)
  • Kitō-ryū 起倒流 unter Tsunetoshi Iikubo – Spezialisierung auf Nage-waza (Wurftechniken) und Kata (Formen)

Doch Kanō war nicht zufrieden mit bloßem Kopieren. Er analysierte, experimentierte und fragte: Warum funktionieren diese Techniken? Welche Prinzipien liegen zugrunde?

Die Gründung des Kōdōkan 講道館 (1882)

Februar 1882: Mit nur 21 Jahren gründet Kanō den Kōdōkan 講道館 („Ort zum Studium des Weges") in einem kleinen Tempel in Tōkyō. Die erste Trainingsmatte (Tatami) ist gerade einmal 12 Tatami-Matten groß. Er hat 9 Schüler.

Kanōs Revolution lag in drei radikalen Entscheidungen:

1. Gefährliche Techniken entfernen

Gelenkbrüche, Würgegriffe zum Tod, Schläge auf Vitalpunkte – alles eliminiert oder in sicheren Kontext (Kata) verbannt.

2. Randori 乱取り einführen

Freies Sparring mit vollem Widerstand – aber sicher. Dies war revolutionär: Jūjutsu-Schulen übten nur Kata (choreografierte Formen).

3. Moralische Erziehung betonen

Judo ist kein Kampfsport, sondern ein Bildungsweg (道 Dō). Charakter vor Kampffähigkeit.

Das legendäre Turnier von 1886

Die Tōkyō-Polizei suchte eine Kampfkunst für ihre Ausbildung. Kanōs Kōdōkan trat gegen die etablierte Totsuka-ha Yoshin-ryū an – eine der renommiertesten Jūjutsu-Schulen Japans.

Ergebnis:

  • Kōdōkan: 13 Siege, 2 Unentschieden
  • Totsuka-ha: 0 Siege

Die Tōkyō-Polizei wählte Judo. Der Sieg war nicht nur sportlich – er markierte den Triumph eines neuen Paradigmas: Systematisches Training und Prinzipien über rohe Tradition.

Diese Geschichte inspirierte Akira Kurosawa 黒澤明 zu seinem Debütfilm Sanshiro Sugata 姿三四郎 (1943), der das Turnier dramatisiert.

Die philosophischen Prinzipien des Judo

精力善用 Seiryoku-Zen'yō

Maximale Effizienz bei minimalem Kraftaufwand

Das Herzstück der Judo-Philosophie: Nutze die Kraft des Gegners gegen ihn selbst. Wenn jemand dich zieht, ziehe nicht zurück – stoße. Wenn jemand dich stößt, ziehe.

Praktisches Beispiel:

Ein 60 kg Judoka kann einen 100 kg Gegner werfen, nicht durch Muskelkraft, sondern durch Timing, Hebelwirkung und das Nutzen der gegnerischen Bewegung. Der Wurf O-soto-gari 大外刈り (großer Außensichel-Wurf) funktioniert, weil du das Gewicht des Gegners für dich arbeiten lässt.

Dieses Prinzip gilt nicht nur im Kampf, sondern im Leben: Nutze deine Ressourcen optimal.

自他共栄 Jita-Kyōei

Gegenseitiger Wohlstand und Nutzen

Judo ist kein Nullsummenspiel. Beide Trainingspartner sollen wachsen. Wenn du deinen Partner wirfst, hilfst du ihm, Fall- Techniken (Ukemi 受け身) zu meistern. Wenn er dich wirft, lernst du Demut und Resilienz.

Kanōs Vision:

„Das ultimative Ziel des Judo ist es, den Charakter zu perfektionieren und zur Gesellschaft beizutragen. Technische Meisterschaft ist nur ein Mittel, kein Zweck."

Im Randori (freies Sparring) gibt es keinen „Feind" – nur Partner, die sich gegenseitig helfen, zu wachsen.

Die Techniken des Judo

Judo kategorisiert Techniken systematisch. Kanō organisierte das chaotische Jūjutsu-Erbe in eine logische Struktur – ein pädagogischer Durchbruch.

投げ技 Nage-waza – Wurftechniken

Das Herzstück des Judo. Über 40 klassifizierte Würfe, unterteilt in:

Te-waza 手技 (Hand-Techniken)

  • Seoi-nage 背負い投げ (Schulterwurf)
  • Tai-otoshi 体落とし (Körpersturz)
  • Uki-goshi 浮腰 (Hüftschwung)

Koshi-waza 腰技 (Hüft-Techniken)

  • O-goshi 大腰 (Große Hüfte)
  • Harai-goshi 払腰 (Fege-Hüfte)
  • Tsuri-komi-goshi 釣込腰 (Zug-Hüfte)

Ashi-waza 足技 (Fuß-Techniken)

  • O-soto-gari 大外刈 (Großer Außensichel)
  • Uchi-mata 内股 (Innerer Schenkel)
  • Ko-uchi-gari 小内刈 (Kleiner Innensichel)

固め技 Katame-waza – Bodenkampf-Techniken

Kontrolle am Boden – drei Kategorien:

Osaekomi-waza 押込技

Haltetechniken

Kesa-gatame 袈裟固 (Schärpen-Haltegriff), Yoko-shiho-gatame 横四方固 (Seitliche Vier-Ecken-Haltegriff)

Shime-waza 絞技

Würgegriffe

Nur am Kragen/Gi erlaubt (nicht am Hals direkt). Hadaka-jime 裸絞 (Nackter Würger)

Kansetsu-waza 関節技

Gelenkhebel

Nur Ellenbogenhebel erlaubt (Handgelenk, Knie, Schulter verboten). Juji-gatame 十字固 (Kreuz-Armhebel)

Judo als olympische Disziplin

Tōkyō 1964: Die erste asiatische Kampfkunst bei Olympia

Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tōkyō wurde Judo erstmals olympisch – ein Heimspiel für Japan. Doch in der offenen Gewichtsklasse erlebte das Gastgeberland eine Überraschung:

Anton Geesink (Niederlande, 1,98 m, 120 kg) besiegte im Finale Akio Kaminaga (Japan, 1,80 m, 98 kg) mit Kesa-gatame. Ein Nicht-Japaner gewann Gold in der prestigeträchtigsten Kategorie – vor japanischem Publikum.

Dies bewies: Judo gehört der Welt, nicht nur Japan.

Moderne Wettkampfregeln (IJF)

Wettkämpfe dauern 4 Minuten (Männer/Frauen). Punktwertung:

  • Ippon 一本 – Voller Punkt (sofortiger Sieg): Perfekter Wurf auf den Rücken, 20 Sekunden Haltegriff, Aufgabe durch Würger/Hebel
  • Waza-ari 技あり – Halber Punkt: Fast perfekter Wurf, 10–19 Sekunden Haltegriff (2 Waza-ari = Ippon)

Seit 2017 gibt es keine Yuko/Koka mehr – nur noch Waza-ari und Ippon. Dies macht Kämpfe dynamischer.

Das Erbe Kanō Jigorōs

Globale Verbreitung

Über 20 Millionen aktive Judoka weltweit, in 200+ Ländern. Der Kōdōkan in Tōkyō bleibt das spirituelle Zentrum mit über 1,5 Millionen registrierten Mitgliedern.

Bildungsansatz

Judo wird in vielen Ländern als Schulsport unterrichtet. In Frankreich gibt es über 600.000 Judoka – mehr als in Japan. Kanōs Vision von Judo als Bildungsweg hat sich erfüllt.

Einfluss auf andere Kampfkünste

Judo beeinflusste Brazilian Jiu-Jitsu (Mitsuyo Maeda brachte Judo nach Brasilien), Sambo (sowjetische Kampfkunst), und moderne MMA (Ronda Rousey, Kayla Harrison – beide Judo-Olympiasieger).

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