Karate

空手道 (Karate-dō)

Die Kunst der leeren Hand – Vom geheimen Okinawa-Te zur olympischen Disziplin

In einer unscheinbaren Dorfhalle auf Okinawa, fernab der japanischen Hauptinsel, übt ein alter Meister eine Kata – eine choreografierte Kampfsequenz, deren Bewegungen über Generationen weitergegeben wurden. Jeder Schritt, jeder Block, jeder Schlag erzählt die Geschichte eines Volkes, das seine Kampfkunst im Verborgenen entwickelte, als Waffen verboten waren. Diese Bewegungen, ursprünglich als 唐手 Tōde („chinesische Hand") bekannt, wurden zu 空手 Karate („leere Hand") – ein Wandel, der nicht nur eine Umbenennung war, sondern eine philosophische Revolution. Heute praktizieren über 100 Millionen Menschen weltweit Karate. Doch die wahre Essenz liegt nicht in spektakulären Kicks oder Trophäen, sondern in der stillen Disziplin des endlosen Übens: „Das Ziel des Karate liegt nicht im Sieg oder in der Niederlage, sondern in der Perfektionierung des Charakters." – Gichin Funakoshi

Ursprünge auf Okinawa: Te und der chinesische Einfluss

Karate ist keine rein japanische Erfindung. Seine Wurzeln liegen auf Okinawa 沖縄, der größten Insel des Ryūkyū-Königreichs 琉球王国, das bis 1879 ein eigenständiger Tributstaat Chinas war. Diese geografische und kulturelle Zwischenposition – zwischen Japan und China – prägte Okinawas Kampfkünste fundamental.

Waffenverbote und die Geburt des Te 手

1429: König Shō Hashi eint die Ryūkyū-Inseln und verbietet privaten Waffenbesitz, um Aufstände zu verhindern. Die Adligen und Kriegerklasse (Pechin) entwickeln daraufhin waffenlose Kampftechniken – Te 手 („Hand").

1609: Der japanische Satsuma-Clan erobert Okinawa und verschärft das Waffenverbot drastisch. Selbst Küchenutensilien werden reguliert. In diesem Klima wird Te zur Überlebenskunst – trainiert im Geheimen, nachts auf abgelegenen Feldern. Die Meister geben ihr Wissen nur an wenige, vertrauenswürdige Schüler weiter.

Die drei regionalen Te-Stile:

  • Shuri-Te 首里手 – Stil der Hauptstadt Shuri (adelige Krieger), Basis für Shōtōkan
  • Naha-Te 那覇手 – Hafenstadt Naha (Händler, starker chinesischer Einfluss), Basis für Gōjū-Ryū
  • Tomari-Te 泊手 – Fischerdorf Tomari (Bauern und Fischer)

Chinesische Meister und der Fújiàn-Weißer-Kranich-Einfluss

Okinawa unterhielt intensive Handelsbeziehungen mit dem chinesischen Fújiàn 福建. Chinesische Diplomaten, Händler und Kampfkunstmeister lebten in der Kumemura 久米村-Siedlung in Naha. Sie brachten südchinesische Kampfstile mit – insbesondere Báihè Quán 白鹤拳 (Weißer Kranich Faust) und Wǔzǔquán 五祖拳 (Fünf-Ahnen-Faust).

Higaonna Kanryō 東恩納 寛量 (1853–1915), ein Naha-Te-Meister, reiste nach Fújiàn und trainierte bei chinesischen Meistern. Er brachte diese Techniken zurück und integrierte sie in Naha-Te – die Grundlage für den späteren Gōjū-Ryū-Stil.

Viele Karate-Kata (Formen) haben chinesische Namen: Sanchin 三戦 (Sānzhàn), Seishan 十三 (Shísān), Kūsankū 公相君 (Gōngxiāngjūn).

Gichin Funakoshi: Der Vater des modernen Karate

Funakoshi Gichin 船越 義珍 (1868–1957) war kein Krieger. Er war Grundschullehrer auf Okinawa. Doch er wurde zur Schlüsselfigur, die Karate aus der Dunkelheit holte und zur weltweit praktizierten Kampfkunst machte.

Die historischen Vorführungen: 1917 und 1922

1917: Funakoshi demonstriert Karate vor dem japanischen Kronprinzen Hirohito in Kyōto. Die Vorführung ist ein Erfolg – erstmals sieht das japanische Festland diese geheimnisvolle Okinawa-Kampfkunst.

1922: Das japanische Bildungsministerium lädt Funakoshi zur ersten nationalen Sportausstellung nach Tōkyō ein. Seine Vorführung elektrisiert das Publikum. Jigoro Kanō 嘉納 治五郎, der Gründer des Judo, lädt ihn ein, im Kōdōkan (Judo-Hauptquartier) zu unterrichten.

Funakoshi plant, nach wenigen Wochen nach Okinawa zurückzukehren – doch die Nachfrage ist überwältigend. Er bleibt und gründet das erste Karate-Dōjō auf dem japanischen Festland.

Die Umbenennung: Von 唐手 Tōde zu 空手 Karate

Ursprünglich schrieb man Karate als 唐手 Tōde („Tang-Hand" oder „chinesische Hand" – 唐 = Tang-Dynastie, Synonym für China). Diese Schreibweise ehrte die chinesischen Wurzeln der Kunst.

1929: Funakoshi ändert die Schreibweise zu 空手 Karate („leere Hand" – 空 = leer, Leere). Die Aussprache bleibt gleich, doch die Bedeutung wandelt sich radikal.

Praktische Gründe:

  • Nationalistische Stimmung: Japan wollte keine „chinesische" Kampfkunst
  • Integration in japanisches Bildungssystem erleichtert

Philosophische Tiefe:

  • „Leer" im Zen-Buddhismus: Leerer Geist (Mushin 無心)
  • Keine Waffen – nur der trainierte Körper
  • Hinzufügung von 道 (-dō, „Weg"): Karate-dō als spiritueller Pfad

Die vier großen Karate-Stile

Shōtōkan 松濤館 – Kraftvolle Dynamik

Gegründet von Gichin Funakoshi (1868–1957)

Shōtō 松濤 („Pinien-Rauschen") war Funakoshis Künstlername. Shōtōkan ist der einflussreichste und am weitesten verbreitete Karate-Stil weltweit.

Charakteristika:

  • Tiefe, lange Stände (Zenkutsu-dachi 前屈立)
  • Lineare, explosive Techniken
  • Hüftrotation für maximale Kraft (Koshi 腰)
  • 26 Kata (Heian, Tekki, Bassai, Kankū, etc.)

Motto: „Karate ni sente nashi" 空手に先手なし („Im Karate gibt es keinen ersten Angriff")

Gōjū-Ryū 剛柔流 – Hart und Weich

Gegründet von Chōjun Miyagi (1888–1953)

Gō 剛 („hart") + Jū 柔 („weich") = Harmonie der Gegensätze. Gōjū-Ryū bewahrt den stärksten chinesischen Einfluss aller modernen Karate-Stile.

Charakteristika:

  • Höhere Stände, kreisförmige Bewegungen (chinesischer Einfluss)
  • Atmungskontrolle (Ibuki 息吹)
  • Nahkampf-Techniken, Greifen, Würfe
  • Sanchin 三戦 Kata (aus Fújiàn Báihè Quán) als Fundament

Bekannt für „eiserne Körper"-Konditionierung (Kakie カキエ – klebende Hände)

Shitō-Ryū 糸東流 – Synthese und Vielfalt

Gegründet von Kenwa Mabuni (1889–1952)

Mabuni studierte bei beiden Legenden: Ankō Itosu (Shuri-Te) und Kanryō Higaonna (Naha-Te). Shitō-Ryū vereint beide Linien.

Charakteristika:

  • Größtes Kata-Repertoire: Über 50 Formen (Shōtōkan + Gōjū-Ryū + eigene)
  • Balance zwischen Geschwindigkeit und Kraft
  • Vielseitigkeit: Lange + kurze Distanzen

Name: 糸 (Ito, von Itosu) + 東 (Higashi, von Higaonna = Ost)

Wadō-Ryū 和道流 – Der Weg der Harmonie

Gegründet von Hironori Ōtsuka (1892–1982)

Ōtsuka war ursprünglich Jūjutsu-Meister, bevor er bei Funakoshi Karate lernte. Wadō-Ryū integriert Jūjutsu-Würfe und -Hebel.

Charakteristika:

  • Ausweichen statt Blocken (Tai Sabaki 体捌き)
  • Kürzere, natürlichere Stände
  • Jūjutsu-Techniken: Würfe, Hebel, Bodenkampf
  • Geschmeidigkeit über rohe Kraft

Philosophie: Kraft des Gegners umleiten, nicht entgegensetzen

Die drei Säulen des Karate-Trainings

Kihon 基本 – Grundtechniken

Endloses Wiederholen fundamentaler Bewegungen: Stände, Schläge (Tsuki 突き), Tritte (Geri 蹴り), Blöcke (Uke 受け). Perfektion durch Wiederholung.

„Übe eine Technik 10.000 Mal, dann hast du sie vielleicht verstanden." – Meister-Sprichwort

Kata 形 – Formen

Choreografierte Kampfsequenzen gegen imaginäre Gegner. Bewahrt alte Techniken und Prinzipien. Jede Kata erzählt eine Geschichte.

Heian, Tekki, Bassai, Kankū, Gankaku, Jion – jede Kata ein Universum

Kumite 組手 – Partnertraining

Anwendung der Techniken im kontrollierten Kampf. Von festgelegten Formen (Kihon Kumite) bis zu freiem Sparring (Jiyū Kumite).

Olympisches Karate: Punkte-Kumite (WKF-Regeln)

Karate heute: Sport, Budō und globales Phänomen

Olympische Anerkennung (Tōkyō 2020)

Nach Jahrzehnten des Wartens wurde Karate bei den Olympischen Spielen 2020 in Tōkyō (2021) olympische Disziplin – in der Heimat seiner modernen Wiedergeburt. Zwei Wettkampfformen: Kata (Formenlauf) und Kumite (Kampf).

Ironischerweise wurde Karate für Paris 2024 wieder gestrichen – ein Comeback bleibt unsicher.

Die Dōjō-Kun 道場訓 – Die fünf Prinzipien

Am Ende jedes Trainings rezitieren Karateka die Dōjō-Kun – fünf ethische Prinzipien, die weit über die Kampfkunst hinausgehen:

  1. Charakter perfektionieren (人格完成に努むること)
  2. Den Weg der Wahrheit suchen (誠の道を守ること)
  3. Anstrengung kultivieren (努力の精神を養うこと)
  4. Etikette respektieren (礼儀を重んずること)
  5. Gewalt zurückhalten (血気の勇を戒むること)

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