Taekwondo

태권도 (Taekwondo)

Der Weg des Fußes und der Faust – Koreas spektakuläre Antwort auf die Kampfkünste der Welt

Im Jahr 1952 saß der südkoreanische Präsident Syngman Rhee 이승만 in einem Militärlager und beobachtete eine Demonstration. Zwei Offiziere der 29. Infanteriedivision – Choi Hong-hi 최홍희 und Nam Tae-hi 남태희 – zeigten kraftvolle Tritte, explosive Schläge und akrobatische Sprünge. Rhee war elektrisiert. Er verwechselte die vorgeführten Techniken mit Taekkyon 택견, der alten koreanischen Kampfkunst, und befahl: Diese Kunst muss standardisiert und in der Armee gelehrt werden. Was Rhee nicht wusste: Die Techniken stammmen größtenteils aus japanischem Karate 空手道, das die Koreaner während der japanischen Kolonialzeit (1910–1945) gelernt hatten. Doch aus dieser politischen Fehleinschätzung entstand eine Bewegung, die Korea eine eigene nationale Kampfkunst gab. Nach jahrelangen Debatten über den Namen – Tang Soo Do 唐手道, Kong Soo Do 空手道, Tae Soo Do 跆手道 – einigte man sich 1955 auf Taekwondo 태권도 („Weg des Fußes und der Faust"). Heute praktizieren über 80 Millionen Menschen weltweit eine Kampfkunst, die aus der Asche der Kolonialzeit aufstieg und 2000 olympisch wurde – ein Symbol koreanischer Identität und globaler Soft Power.

Die Wurzeln: Koreanische Kampfkünste vor dem 20. Jahrhundert

Korea hat eine lange Geschichte der Kampfkünste, doch vieles ging während der japanischen Kolonialzeit (1910–1945) verloren. Die beiden ältesten dokumentierten Kampfkünste sind Ssireum 씨름 (Ringen) und Taekkyon 택견 (tänzerische Trittkampfkunst).

Taekkyon 택견 – Die älteste koreanische Kampfkunst

Taekkyon wird erstmals in Wandmalereien der Goguryeo-Dynastie 고구려 (37 v. Chr.–668 n. Chr.) dargestellt. Es ist eine fließende, tänzerische Kampfkunst mit kreisförmigen Kicks, Beinfegern und rhythmischen Bewegungen.

Während der Joseon-Dynastie 조선 (1392–1897) war Taekkyon als Volkssport bei Bauern und Händlern beliebt, wurde aber von der konfuzianischen Elite verachtet (Kampf galt als unzivilisiert).

1910–1945: Unter japanischer Herrschaft wurde Taekkyon unterdrückt. Nur wenige alte Meister wie Song Deok-gi 송덕기 (1893–1987) bewahrten die Tradition im Geheimen.

2011 wurde Taekkyon von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt – älter und traditioneller als Taekwondo, aber weit weniger verbreitet.

Die japanische Kolonialzeit: Karate kommt nach Korea

1910: Japan annektiert Korea. Koreanische Kampfkünste werden verboten oder marginalisiert. Gleichzeitig bringen japanische Kolonialherren Karate, Judo 柔道 und Kendo 剣道 mit.

Viele junge Koreaner studieren in Japan und lernen dort Karate:

  • Choi Hong-hi 최홍희 (1918–2002) – lernt Shōtōkan-Karate in Kyōto bei Gichin Funakoshi
  • Yoon Byung-in 윤병인 – lernt chinesisches Kungfu und Karate
  • Lee Won-kuk 이원국 – trainiert Shōtōkan in Tōkyō

Diese Karate-Ausbildung wurde später zur Grundlage des Taekwondo – ein kontroverses Thema, das koreanische Nationalisten oft verschweigen.

Die Geburt des Taekwondo: Die Kwans (1945–1955)

1945: Befreiung und die ersten Kampfkunstschulen

Nach Japans Kapitulation 1945 kehren die in Japan ausgebildeten Karateka nach Korea zurück und gründen eigene Schulen (Kwan 관). Sie unterrichten zunächst japanisches Karate, nennen es aber koreanisch:

  • 唐手道 Tang Soo Do – „Weg der Tang-Hand" (Tang = China; koreanische Aussprache von Karate 唐手)
  • 空手道 Kong Soo Do – „Weg der leeren Hand" (direkte Übersetzung von Karate 空手道)

Die neun ursprünglichen Kwans

Zwischen 1945 und 1955 entstanden neun große Kampfkunstschulen (Kwans) in Seoul:

1. Chung Do Kwan 청도관 (1944)

Gegründet von Lee Won-kuk. „Schule des blauen Weges"

2. Moo Duk Kwan 무덕관 (1945)

Hwang Kee. „Schule der Kampftugend" (später Tang Soo Do)

3. Song Moo Kwan 송무관 (1946)

Ro Byung-jick. „Ewige Kampfkunstschule"

4. Kwon Bop Bu / Chang Moo Kwan 창무관 (1946)

Yoon Byung-in. Chinesischer Einfluss (Kungfu)

5. Yun Moo Kwan / Ji Do Kwan 지도관 (1946)

Chun Sang-sup. „Schule des Weges der Weisheit"

6. Han Moo Kwan 한무관 (1954)

Lee Kyo-yun. Judo-Einfluss

7. Oh Do Kwan 오도관 (1955)

Choi Hong-hi. Militärische Kwan

8. Kang Duk Won 강덕원 (1956)

Hong Chong-soo, Park Chul-hee

9. Jung Do Kwan 정도관 (1956)

Lee Yong-woo. Späte Gründung

Jede Kwan hatte eigene Techniken, Formen (Hyeong) und Philosophie – meist basierend auf japanischem Karate, aber mit koreanischer Identität.

1955: Die Namensgebung „Taekwondo"

Ab 1952 drängten Präsident Rhee und General Choi Hong-hi auf eine Vereinheitlichung. Nach dreijährigen Debatten schlägt Choi den Namen Taekwondo 태권도 vor:

跆 Tae (태) = Treten, mit dem Fuß schlagen
拳 Kwon (권) = Faust, mit der Hand schlagen
道 Do (도) = Weg, Philosophie

Der Name wurde gewählt, weil er phonetisch an das alte Taekkyon 택견 erinnert – eine bewusste Verbindung zur koreanischen Vergangenheit, auch wenn die Techniken größtenteils aus Karate stammten.

Nicht alle Kwans akzeptierten den Namen sofort. Einige verwendeten weiterhin „Tang Soo Do" oder „Kong Soo Do". Die vollständige Vereinigung dauerte bis in die 1970er.

Choi Hong-hi und die Spaltung: ITF vs. WT

Choi Hong-hi 최홍희 (1918–2002): Der umstrittene „Vater des Taekwondo"

General Choi Hong-hi wird oft als „Gründer des Taekwondo" bezeichnet – eine Behauptung, die andere Kwan-Gründer heftig bestritten. Choi war zweifellos eine Schlüsselfigur, aber er war einer von vielen.

1918: Geboren in Nordkorea (heute Nordkorea). Lernt Karate in Japan unter Gichin Funakoshi (Shōtōkan-Gründer).

1955: Schlägt den Namen „Taekwondo" vor.

1959: Gründung der Korea Taekwondo Association (KTA) 대한태권도협회, die alle Kwans vereinen soll.

1966: Choi gründet die International Taekwon-Do Federation (ITF) mit Sitz in Seoul, um Taekwondo weltweit zu verbreiten. Doch politische Spannungen führen zum Bruch.

Die Spaltung (1972): ITF vs. WTF (heute WT)

1972: Choi gerät in Konflikt mit der südkoreanischen Regierung über die Frage, ob Taekwondo auch in Nordkorea unterrichtet werden sollte. Präsident Park Chung-hee entzieht der ITF die staatliche Unterstützung.

Choi flieht nach Kanada und verlegt die ITF-Zentrale nach Toronto. Er unterrichtet Taekwondo in Nordkorea, was ihn in Südkorea zum Verräter macht.

1972: Die südkoreanische Regierung gründet das Kukkiwon 국기원 (nationale Taekwondo-Akademie) in Seoul.

1973: Gründung der World Taekwondo Federation (WTF) (seit 2017 umbenannt in World Taekwondo, WT), die Kukkiwon-Taekwondo weltweit repräsentiert.

ITF vs. WT: Zwei Taekwondo-Welten

ITF (International Taekwon-Do Federation)

  • • Gegründet 1966 von Choi Hong-hi
  • • Sitz: Kanada, später Österreich/UK/Spanien (gespalten)
  • • Formen: 24 Tul (Chang Hon-Stil)
  • • Wettkampf: Faustschläge zum Kopf erlaubt, leichter Kontakt
  • • Fokus: Traditionelle Selbstverteidigung
  • • NICHT olympisch

WT (World Taekwondo, ehemals WTF)

  • • Gegründet 1973 von der südkoreanischen Regierung
  • • Sitz: Seoul (Kukkiwon)
  • • Formen: 8 Taegeuk + 9 Yudanja Poomsae
  • • Wettkampf: Nur Kicks zum Kopf, Vollkontakt mit elektronischen Westen
  • • Fokus: Olympischer Sport
  • • Seit 2000 olympisch

Heute praktizieren weltweit etwa 80% der Taekwondoka WT-Taekwondo, 20% ITF. Die ITF spaltete sich nach Chois Tod 2002 in drei separate Organisationen.

Die fünf Grundsätze des Taekwondo

Choi Hong-hi formulierte die Five Tenets of Taekwondo, die bis heute das ethische Fundament der Kampfkunst bilden:

1. 예의 Ye Ui – Höflichkeit

Respekt vor Lehrern, Älteren, Mitschülern und Gegnern. Verbeugung vor und nach dem Training ist Ausdruck von Respekt, nicht Unterwerfung.

2. 염치 Yom Chi – Integrität

Ehrlichkeit zu sich selbst und anderen. Ein Taekwondoin soll zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können und nach seinem Gewissen handeln.

3. 인내 In Nae – Durchhaltevermögen

Geduld und Ausdauer im Training und im Leben. Schwarzgurt ist kein Endpunkt, sondern der Beginn des wahren Lernens.

4. 극기 Guk Gi – Selbstbeherrschung

Kontrolle über Emotionen, Impulse und körperliche Reaktionen. Im Kampf ruhig bleiben, außerhalb des Kampfes Aggression vermeiden.

5. 백절불굴 Baekjul Boolgool – Unbezwingbarer Geist

Niemals aufgeben, auch in schwierigen Situationen. Ein wahrer Taekwondo-Meister lässt sich nicht entmutigen, egal wie groß das Hindernis.

Techniken und Training: Kicks, Poomsae, Kyorugi

Charakteristische Kicks

Taekwondo ist bekannt für spektakuläre, hohe Tritte. Etwa 70–80% der Techniken sind Beintechniken – weit mehr als in anderen Kampfkünsten.

앞차기 Ap Chagi – Frontkick

Gerader Tritt nach vorne, oft zur Körpermitte oder zum Gesicht

돌려차기 Dollyo Chagi – Rundtritt

Kreisförmiger Tritt von der Seite zum Kopf oder Körper (häufigste Wettkampftechnik)

옆차기 Yeop Chagi – Seitwärtstritt

Kraftvoller Tritt zur Seite mit der Ferse

뒤차기 Dwi Chagi – Rückwärtstritt

Tritt nach hinten, oft überraschend und kraftvoll

내려차기 Naeryo Chagi – Hammerkick

Bein hochheben und wie ein Hammer nach unten schlagen

뛰어차기 Twio Chagi – Sprungtechniken

Spektakuläre Kicks aus dem Sprung, oft in Kombinationen

품새 Poomsae – Formenlauf

Poomsae (auch Hyeong oder Tul, je nach Stil) sind festgelegte Bewegungsabläufe gegen imaginäre Gegner. Sie dienen der Technikverbesserung und geistigen Konzentration.

WT/Kukkiwon Poomsae

  • 8 Taegeuk 태극 (für Farbgurte, 10.–1. Kup)
  • 9 Yudanja-Poomsae (Schwarzgurte): Koryo, Keumgang, Taebaek, Pyongwon, Sipjin, Jitae, Chonkwon, Hansoo, Ilyeo

ITF Tul

  • 24 Tul 틀 (entwickelt von Choi Hong-hi)
  • • Benannt nach koreanischen historischen Figuren und Konzepten (z.B. Dan-Gun, Toi-Gye, Hwa-Rang)

겨루기 Kyorugi – Wettkampf (WT-Regeln)

Olympisches Taekwondo (WT) ist ein Vollkontakt-Sport mit elektronischen Schutzwesten (Hogu 호구):

  • 3 Runden à 2 Minuten (1 Minute Pause)
  • Punktesystem: Körpertreffer (2 Punkte), Kopftreffer (3 Punkte), drehende Kopftreffer (5 Punkte)
  • Nur Kicks zum Kopf erlaubt – Faustschläge zum Kopf verboten
  • Elektronische Wertung seit 2009 (reduziert Schiedsrichter-Kontroversen)

Olympisches Taekwondo: Von Seoul 1988 zu globaler Anerkennung

Der Weg zu Olympia

1973: Gründung der World Taekwondo Federation (WTF). Erstes WTF-Weltmeisterschaft in Seoul.

1980: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) erkennt die WTF an – ein wichtiger Schritt.

1988: Taekwondo als Demonstrationssport bei den Olympischen Spielen in Seoul. Ein riesiger Erfolg vor heimischem Publikum.

2000: Taekwondo wird bei den Olympischen Spielen in Sydney zur offiziellen Medaillendisziplin.

Seit 2000 ist Taekwondo fester Bestandteil der Olympischen Spiele – ein Symbol für Koreas Soft Power und globalen Einfluss.

2018: Taekwondo als Koreas nationale Kampfkunst

Im März 2018 erklärte die südkoreanische Regierung Taekwondo offiziell zur nationalen Kampfkunst Koreas – eine symbolische Anerkennung seiner kulturellen Bedeutung und globalen Reichweite.

Globale Verbreitung

Über 80 Millionen Praktizierende in 210+ Ländern. Taekwondo ist eine der meistpraktizierten Kampfkünste weltweit – besonders beliebt bei Kindern und Jugendlichen.

Korea als Taekwondo-Mekka

Das Kukkiwon in Seoul bleibt das spirituelle Zentrum. Über 9 Millionen Schwarzgurt-Zertifikate wurden dort ausgestellt. Taekwondo-Parks und Trainingscenter ziehen weltweit Schüler an.

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