Schönheitsideale und Mode in China
Zwischen konfuzianischer Tradition und globalem Streetstyle: Wie Chinas Jugend das Schönheitsideal neu definiert

Chinas Schönheitsideal wandelt sich im Spannungsfeld zwischen kulturellem Erbe und globalen Einflüssen // Foto: Koichiro Ohba, CC BY 2.0
Der wirtschaftliche Aufschwung Chinas hat nicht nur Wolkenkratzer in die Höhe schießen lassen, sondern auch eine vielfältige Jugendkultur hervorgebracht. In den Großstädten zwischen Shanghai und Chengdu inszeniert sich eine Generation, die mit Selbstbewusstsein ihre Identität zelebriert – im Spannungsfeld zwischen globalem Streetstyle und chinesischer Ästhetik. Hinter dem bunten Kaleidoskop aus Subkulturen und Modeströmungen verbirgt sich mehr als nur Konsum: Es ist der Versuch einer Generation, die unter der Ein-Kind-Politik aufwuchs, ihren Platz in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft zu finden.
Subkulturen der chinesischen Großstadt
森女 Sennü – Die Waldfrau
Weite, erdfarbene Gewänder, natürliche Stoffe und eine romantisch-verträumte Ästhetik charakterisieren die Sennü. China Daily beschrieb sie treffend als „ein bisschen Rotkäppchen, ein bisschen Marie Antoinette, ein bisschen Alice im Wunderland". Diese Stilrichtung verkörpert eine Sehnsucht nach Naturverbundenheit inmitten der urbanen Megametropolen.
„Mit dem Kopf noch in der Kindheit" – so beschreiben sich viele Anhängerinnen dieser Subkultur selbst.
御姐 Yujie – Die Manga-Königin
Mit übergroßen Augen durch farbige Kontaktlinsen, signalrosafarbenem Lippenstift und einer Erscheinung wie aus einem Manga entsprungen, verkörpert die Yujie eine extreme Form der Selbstinszenierung. Drei Stunden täglich vor dem Schminkspiegel sind keine Seltenheit. Diese Stilrichtung hat das zweidimensionale Schönheitsideal japanischer Comics in die dreidimensionale Realität übertragen.
Das Aussehen wird zum Beruf – viele Yujie arbeiten als Models oder Influencerinnen.
白富美 Baifumei & 高富帥 Gaofushuai – Das Power-Paar
Baifumei – Weiß, Reich, Schön
Makellose Kleidung von Designerlabels, perfekt abgestimmte Accessoires und eine helle Hautfarbe charakterisieren die Baifumei. Doch hinter dem Begriff steckt mehr als Oberflächlichkeit: Es geht um Bildung, Kultiviertheit und souveränen Umgang mit anderen Menschen.
Gaofushuai – Groß, Reich, Attraktiv
Nadelstreifenanzug, Manschettenknöpfe und ein Stil, der an das Shanghai der 1920er Jahre erinnert. Der Gaofushuai verkörpert wirtschaftlichen Erfolg gepaart mit ästhetischem Bewusstsein. Auch hier zählt nicht nur das Äußere, sondern Bildung und soziale Kompetenz.
Kultureller Kontext: Diese Begriffe beschreiben ein modernes chinesisches Ideal, das wirtschaftlichen Erfolg mit kultureller Raffinesse verbindet – eine Reaktion auf den rasanten sozialen Aufstieg vieler chinesischer Familien.
Das zeitgenössische Schönheitsideal
Physische Merkmale des Ideals
- ✦双眼皮 (Shuāng yǎnpí) – Große mandelförmige Augen mit doppelter Lidfalte
- ✦瓜子脸 (Guāzǐ liǎn) – Ovales Gesicht mit schmalem Kinn
- ✦白皮肤 (Bái pífū) – Helle, makellose Haut als traditionelles Schönheitsmerkmal
- ✦高鼻梁 (Gāo bíliáng) – Hoher Nasenrücken
- ✦樱桃小嘴 (Yīngtáo xiǎo zuǐ) – Volle, kirschrote Lippen
- ✦苗条身材 (Miáotiáo shēncái) – Schlanke, sportliche Figur
Das moderne chinesische Schönheitsideal steht im Spannungsfeld zwischen traditionellen Werten und globalen Einflüssen. Während helle Haut seit Jahrhunderten als Zeichen von Wohlstand gilt (wer nicht auf dem Feld arbeiten musste, blieb hell), kommen heute Einflüsse aus Korea, Japan und dem Westen hinzu. Die Sinisierung dieser globalen Trends – ihre Anpassung an chinesische Ästhetik – ist ein faszinierender kultureller Prozess.
Die Generation der Ein-Kind-Politik
富二代 Fuerdai – Die "Reichen der zweiten Generation"
Als einzige Kinder wohlhabender Familien wuchsen sie in materiellem Überfluss auf. Sie verkörpern den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und haben Zugang zu Luxusgütern, Bildung und internationalen Erfahrungen. Ihr Konsumverhalten prägt die Modeindustrie.
穷二代 Qiongerdai – Die "Armen der zweiten Generation"
Trotz der wirtschaftlichen Dynamik bleiben viele vom Aufstieg ausgeschlossen. Hohe Immobilienpreise, Bildungskosten und soziale Erwartungen lasten schwer auf dieser Gruppe. Mode wird hier zum erschwinglichen Mittel der Selbstdarstellung und sozialen Aspiration.
Konsum als Identität
Für beide Gruppen wird Mode und Konsum zum Ausdrucksmittel. Die Frage bleibt: Ist der ausgeprägte Stil individuelle Selbstverwirklichung oder dient er primär der Darstellung sozialer Zugehörigkeit? Die Antwort liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Als Einzelkinder einer ehrgeizigen Elterngeneration navigieren sie zwischen familiären Erwartungen und persönlichen Träumen – Mode bietet dabei einen Raum für kreative Selbstbehauptung.
Ikonen des Schönheitsideals
Schauspielerinnen wie Fan Bingbing (范冰冰) verkörpern das moderne Baifumei-Ideal zur Perfektion. Mit ihrem eleganten Auftreten, ihrer Präsenz auf internationalen Laufstegen und ihrer unternehmerischen Tätigkeit zeigt sie, wie chinesische Schönheitsstandards global wirken können.
100 Jahre Schönheit im Wandel
Die Entwicklung des Schönheitsideals in China spiegelt die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts wider: Von der Qing-Dynastie über die Kulturrevolution bis zur wirtschaftlichen Öffnung hat sich nicht nur die Mode, sondern auch das Selbstverständnis der Menschen fundamental gewandelt.
Während in den 1920er Jahren der Shanghai-Chic mit seinen Qipao-Kleidern das Ideal prägte, dominierte in den 1960er und 70er Jahren die uniforme Mao-Jacke. Erst mit der Reform- und Öffnungspolitik ab 1978 kehrte die Vielfalt zurück – und mit ihr die Möglichkeit, Schönheit individuell zu interpretieren.