
Tagebuch eines Verrückten und andere Erzählungen
Ein Mann wacht auf und sieht überall Kannibalen. Seine Nachbarn, sein Arzt, selbst sein eigener Bruder – alle wollen ihn verschlingen. Was zunächst wie Wahnsinn klingt, entpuppt sich als messerscharfe Analyse einer menschenfressenden Gesellschaftsordnung. Mit dieser 1918 erschienenen Erzählung sprengte Lu Xun die Ketten der traditionellen chinesischen Literatur und schrieb das Gründungsdokument einer literarischen Revolution.
Die Titelgeschichte funktioniert als vielschichtige Allegorie: Die Paranoia des Erzählers entlarvt die konfuzianische Feudalethik als System, das seine eigenen Kinder verschlingt. Lu Xun entwickelt eine Sprache der Angst und des Misstrauens, die den kommenden Schrecken des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Seine Prosa oszilliert zwischen Groteske und Tragik, zwischen beißendem Spott und tiefem Mitgefühl für die Opfer gesellschaftlicher Unterdrückung.
Der Unionsverlag präsentiert eine sorgfältig kuratierte Auswahl von Lu Xuns einflussreichsten Erzählungen, übersetzt von einem Team deutschsprachiger Sinologen. Die Ausgabe basiert auf der maßgeblichen sechsbändigen Werkausgabe von 1994 und macht diese fundamentalen Texte für ein breites Publikum zugänglich. Neben dem »Tagebuch« enthält der Band »Die wahre Geschichte des Ah Q«, jene tragikomische Parabel über Selbsttäuschung, die zum geflügelten Wort für eine ganze Mentalität wurde.
Lu Xun schrieb als Zeitzeuge der Mai-4.-Bewegung, jener intellektuellen Revolte, die ab 1919 Chinas Aufbruch in die Moderne forcierte. Seine literarische Hinterlassenschaft überdauert als zeitloses Zeugnis des Kampfes gegen Autoritarismus, Aberglaube und soziale Ungerechtigkeit. Europäische Kritiker vergleichen ihn mit Kafka, Pessoa und Mandelstam – Stimmen einer Generation, die an der Schwelle zur Moderne die Abgründe der menschlichen Existenz ausgelotet haben.
Inhalt
Tagebuch eines Verrückten: Ein Mann glaubt, alle Menschen um ihn herum wollten ihn fressen. In seiner Paranoia entdeckt er überall Zeichen des Kannibalismus und durchschaut die "menschenfressende" Gesellschaft. Die Erzählung ist eine brillante Allegorie auf die konfuzianische Gesellschaftsordnung.
Die wahre Geschichte des Ah Q: Lu Xuns berühmteste Figur, Ah Q, verkörpert die Selbsttäuschung und den geistigen Sieg in der Niederlage. Die Erzählung wurde zur Metapher für die chinesische Mentalität vor der Revolution.
Kong Yiji: Die tragische Geschichte eines gescheiterten Gelehrten, der zwischen den alten und neuen Zeiten gefangen ist.
Medizin: Eine eindringliche Erzählung über Aberglaube und soziale Ignoranz im alten China.
Alle Geschichten verbindet Lu Xuns schonungslose Kritik an den sozialen Verhältnissen und sein Mitgefühl für die Unterdrückten.
Buchdetails
Ausstattung
- • Tagebuch eines Verrückten
- • Die wahre Geschichte des Ah Q
- • Weitere zentrale Erzählungen
- • Nachwort zur deutschen Ausgabe
Über den Autor
Zhou Shuren (1881–1936), der Welt bekannt als Lu Xun, vollzog einen folgenreichen Kurswechsel: Als Medizinstudent in Japan erkannte er, dass nicht kranke Körper, sondern das kranke Bewusstsein einer Gesellschaft der Heilung bedürfe. Er tauschte das Skalpell gegen die Feder und wurde zur prägenden Stimme seiner Generation. In Shanghai, wo er seine produktivsten Jahre verbrachte, fungierte er als Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Mentor junger Talente. Seine kompromisslose Kritik an Feudalstrukturen und sozialer Heuchelei machte ihn zur Ikone des intellektuellen Widerstands. Bei seinem Tod 1936 säumten Tausende die Straßen Shanghais – eine Generation trauerte um ihren literarischen Wegweiser. Sein Werk überdauert als Pflichtlektüre für alle, die Chinas Weg in die Moderne verstehen wollen.
Kulturelle Bedeutung
Das »Tagebuch eines Verrückten« markiert die Geburtsstunde der modernen chinesischen Literatur. Vor 1918 war die chinesische Prosa noch in klassischer Gelehrtensprache verfasst und folgte tradierten Mustern. Lu Xun durchbrach diese Konventionen radikal: Er schrieb in der gesprochenen Alltagssprache, bediente sich westlicher Erzähltechniken und wagte es, die heiligen Kühe der konfuzianischen Tradition zu schlachten. Seine Erzählungen wurden zum Vorbild für Generationen chinesischer Schriftsteller und schufen einen neuen Modus des kritischen Denkens. Die literarische Moderne Ostasiens ist ohne Lu Xun nicht denkbar – er ebnete den Weg für Autoren wie Mo Yan, Yu Hua und Gao Xingjian. Die deutschsprachige Ausgabe des Unionsverlags erschließt diese Schlüsseltexte für ein breites Publikum und ermöglicht den Dialog zwischen literarischen Traditionen. In Zeiten globaler Umbrüche gewinnt Lu Xuns Kritik an autoritären Strukturen und gesellschaftlicher Heuchelei neue Brisanz.
Lesetipps
• Historischer Kontext der Mai-4.-Bewegung hilfreich
• Allegorische Lesweise für tieferes Verständnis
• Kurze Erzählungen ermöglichen flexible Lektüre
• Ideal als Einführung in moderne chinesische Literatur
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