Werner Meissner erörtert im Aufsatz „Kulturelle Identitätssuche von 1840 bis 1949“, erschienen im Länderbericht China, Chinas Nationalstaats- und Identitätsbildung in der ereignisreichen Zeitepoche zwischen 1840 und 1949. Hierbei stellt er auf anschauliche Weise dar, wie der Westen Einfluss auf Chinas Entwicklung zum Nationalstaat nahm.
Das klassische Bild von China im Westen ist eine Reflexion ihrer Kultur und mit vielen Vorurteilen durchwachsen. Allgemein kennt man das chinesische Reich für seine Kontinuität durch alle Dynastien, ihre einzigartige Zeichenschrift, Tradition in Kunst, Kultur und Philosophie, sowie ihre Erfindungen, weshalb man sie bereits in altertümlichen Zeiten als hochentwickelt bezeichnete. Historisch, stellt Meissner fest und greift damit auf Chinas Jahrtausende alte Kulturgeschichte zurück, sahen die Han-Chinesen jedes andere Volk als, ihnen minderwertige, Barbaren an. Die Invasion von umherliegenden Völkern überstand das Reich indem es besagte Völker akkulturierte und assimilierte. Somit wuchs das Reich stetig. Die Invasion durch den Westen, jedoch, geschah außerhalb der Chinesischen Landesgrenzen, nämlich in erster Linie durch ihre elaborierten Fortschritte in den Naturwissenschaften, Waffen, Bildung und Industrie.
Der Einfall des Westens führte auch zum Verlust der Vormachtstellung in Asien, welches den Identitätsverlust des Landes markiert und China gleichzeitig in dieser Zeit „neu“ entstehen lässt. Die politische Krise induzierte eine Identitätskrise: die Abschaffung des konfuzianischen Bildungssystems führte gleichzeitig den philosophischen Verlust herbei.
China sah sich 1861 der Herausforderung des Westens gegenüber gestellt. Ihr Ziel war es die Vormachtstellung wiederzuerlangen, ohne vom Konfuzianismus abzukommen. Es folgte eine konservative Modernisierung, was bedeutete, dass man sich der westlichen Technologien von Industrie über Bildung und Waffen annahm, jedoch stets mit dem Bewusstsein der konfuzianischen Philosophie. Jedoch wurden 1895 politische Reformen notwendig. Diese geschah zu allererst ideologisch: man sah den Westen nun als ebenbürtig und kehrte vom Sinozentrismus ab. Es entstand der Neokonfuzianismus, ein Paradigmenwechsel, welcher das konfuzianische Denken reformierte. Dennoch war die „Verwestlichung“ nicht aufzuhalten; von 1912 bis 1949 wurde die Überlegenheit des Westens in ihrem analytischen Denken anerkannt. Allen voran gingen die chinesischen Studenten, die nach ihrem Studium, aus der USA oder Europa heimkehrten. In Folge dessen zerteilte sich das Land in verschiedene Paradigmen: Neokonfuzianismus, Liberale/Kapitalisten und chinesische Kommunisten, die später als KP China ab 1949 regieren würden.