Chinas Raumfahrtprogramm
Vom ersten Satelliten 1970 zur Raumstation Tiangong: Ein halbes Jahrhundert wissenschaftliche Pionierarbeit
Als am 24. April 1970 der Satellit Dong Fang Hong I (东方红一号, Der Osten ist rot) vom Raketenstartzentrum Jiuquan abhob, begann Chinas Ära als Raumfahrtnation. Mit 173 Kilogramm war er der schwerste Erststatellit, den je ein Land ins All beförderte. Ein halbes Jahrhundert später betreibt China eine eigene Raumstation, operiert das globale Navigationssystem BeiDou, hat Proben vom Mond zurückgebracht und einen Rover auf dem Mars gelandet. Diese Erfolgsgeschichte basiert auf strategischer Planung, technologischer Beharrlichkeit und dem politischen Willen zur Unabhängigkeit im Weltraum.
Anfänge: Von Raketen zu Satelliten (1950er–1970er)
Qian Xuesen: Der Vater des chinesischen Raumfahrtprogramms
Der Raketenwissenschaftler Qian Xuesen (钱学森) kehrte 1955 aus den USA nach China zurück, nachdem er während der McCarthy-Ära als Sicherheitsrisiko eingestuft worden war. In China legte er den Grundstein für das Raketen- und Raumfahrtprogramm. Im Oktober 1956 wurde die Fünfte Forschungsakademie des Verteidigungsministeriums gegründet – mit gerade einmal 200 Mitarbeitern. Dieser Tag gilt als Geburtsstunde des chinesischen Raumfahrtprogramms.
Die Entwicklung begann mit lizenzierten Kopien sowjetischer R-2-Raketen. Nach dem sino-sowjetischen Bruch 1960 mussten chinesische Ingenieure ohne ausländische Hilfe weitermachen. Am 5. November 1960 gelang der erste erfolgreiche Start der Dongfeng-1 (DF-1, 东风一号). Die Dongfeng-2, bereits vollständig chinesisches Design, flog 1964 erstmals erfolgreich.
Frühe Meilensteine
- 1960: Erste selbstentwickelte Höhenforschungsrakete T-7M (8 km)
- 1964: Biologischer Raketenflug mit acht weißen Mäusen
- 1970: Long March 1 bringt Dong Fang Hong I in Umlaufbahn
- 1975: Erster rückkehrfähiger Satellit Fanhui Shi Weixing
Startanlagen
Das erste Raketentestzentrum entstand in der Wüste Gobi in der Inneren Mongolei: Jiuquan (Raketenstartzentrum). Später kamen Taiyuan (Raketenstartzentrum), Xichang (Raketenstartzentrum) und Wenchang (Raketenstartzentrum) hinzu. Wenchang auf der Insel Hainan bietet dank äquatornaher Lage optimale Bedingungen für schwere Nutzlasten.
Bemannte Raumfahrt: Projekt 921 und Shenzhou
Am 21. September 1992 genehmigte das Politbüro der Kommunistischen Partei das China Manned Space Program (中国载人航天工程), intern als Projekt 921 bekannt. Das Programm folgte einem Drei-Stufen-Plan: Entwicklung bemannter Raumkapseln, Bau von Raumlaboren mit Rendezvous- und Dockingfähigkeit, Errichtung einer modularen Raumstation.
Yang Liwei
神舟五号 · 15. Oktober 2003
Chinas erster Astronaut (Taikonaut) flog 21 Stunden im Orbit und machte China zur dritten Nation mit unabhängiger bemannter Raumfahrtfähigkeit.
Zhai Zhigang
神舟七号 · 2008
Führte Chinas ersten Weltraumausstieg (EVA) durch und testete den chinesischen Feitian-Raumanzug.
Wang Yaping
神舟十三号 · Oktober 2021–April 2022
Erste chinesische Frau beim Weltraumausstieg (November 2021). Verbrachte 183 Tage auf Tiangong und hielt "Weltraum-Unterricht" für 60 Millionen Schüler.
Shenzhou-Raumschiffe (神舟)
Die Shenzhou-Kapsel (神舟, Göttliches Schiff) ähnelt äußerlich der russischen Soyuz, ist aber größer und technologisch eigenständig. Von Shenzhou 1 (1999, unbemannt) bis Shenzhou 20 (2025) transportierten die Kapseln Astronauten zur Raumstation Tiangong. Gestartet werden sie mit der Long March 2F-Rakete vom Kosmodrom Jiuquan.
Tiangong: Chinas Raumstation im Erdorbit
Modularer Aufbau
Die Raumstation Tiangong (天宫, Himmelspalast) wurde zwischen April 2021 und November 2022 im Orbit zusammengebaut. Sie besteht aus drei Modulen:
- Tianhe (天和, Harmonie der Himmel): Kernmodul mit Lebensquartieren für drei Astronauten, Start 29. April 2021
- Wentian (问天, Den Himmel befragen): Erstes Labormodul mit Luftschleuse, Start 24. Juli 2022
- Mengtian (梦天, Himmel der Träume): Zweites Labormodul mit Frachtschleuse, Start 31. Oktober 2022
Technische Daten
Wissenschaftliche Experimente
Tiangong verfügt über 23 Experimentalracks für Mikrogravitationsforschung in Bereichen wie Materialwissenschaft, Biotechnologie, Flüssigkeitsphysik und Grundlagenphysik. Auf den Außenplattformen von Wentian und Mengtian finden Experimente unter Weltraumbedingungen statt. Die Station wird auch für Bildungszwecke genutzt: Astronauten halten Unterrichtsstunden für Millionen chinesische Schüler.
Versorgung und Besatzungsrotation
Tianzhou-Frachter (天舟, Himmelsschiff) bringen alle paar Monate Nachschub, Treibstoff und Experimente zur Station. Die Shenzhou-Kapseln rotieren die Besatzungen alle sechs Monate. Seit November 2022 ist Tiangong permanent bemannt – China verfügt damit über kontinuierliche menschliche Präsenz im Weltraum.
CHINANETZ berichtete (2022): Erste Chinesin im Weltraumausstieg
Im November 2021 schrieb Wang Yaping (王亚平) Geschichte als erste chinesische Frau, die einen Weltraumausstieg unternahm. Mit der Shenzhou-13-Mission startete sie im Oktober 2021 zur Raumstation Tiangong und kehrte im April 2022 nach 183 Tagen im All zur Erde zurück. Wang ist bekannt für ihre "Weltraum-Unterrichtsstunden", in denen sie von der Raumstation aus vor 60 Millionen Schülern in ganz China unterrichtete und Fragen beantwortete.
In einem CNN-Interview (2015) beschrieb sie den ersten Blick aus dem Fenster: "Als ich zum ersten Mal aus dem Fenster schaute, erkannte ich die wahre Bedeutung der Kraft des Lebens... diese Art von Schönheit war einfach unbegreiflich." Wang Yaping ist nach Liu Yang (刘洋), die 2012 mit Shenzhou-9 flog, die zweite chinesische Astronautin im All. Lius Mission erfolgte exakt 49 Jahre nach Walentina Tereschkowas Pionierflug – der ersten Frau im Weltraum.
Nach NASA-Angaben waren bis März 2022 insgesamt 65 Frauen im Weltraum – als Astronautinnen, Kosmonautinnen und Raumstationsteilnehmerinnen. Zu den Vorräten für Wangs Mission gehörten speziell angefertigte Hautpflegeprodukte und Damenhygieneartikel, wie chinesische Staatsmedien berichteten.
BeiDou: Chinas globales Navigationssystem
Das BeiDou-Satellitennavigationssystem (北斗, benannt nach dem Sternbild Großer Wagen (Ursa Major)) entwickelte China in drei Phasen:
BeiDou-1
2000–2012
Experimentalsystem mit zwei geostationären Satelliten für China und Umgebung. Bewies die Machbarkeit.
BeiDou-2
2012–2020
14 Satelliten für Asien-Pazifik-Raum. Höhere Genauigkeit und erweiterte Dienste.
BeiDou-3
Seit 2020
35 Satelliten für globale Abdeckung. Genauigkeit unter 1 Meter, integrierte Kurznachrichtenfunktion.
Am 31. Juli 2020 erklärte Staatspräsident Xi Jinping BeiDou-3 offiziell für einsatzbereit. Das System konkurriert mit GPS (USA), Galileo (EU) und GLONASS (Russland) und ist von den Vereinten Nationen als eines der vier globalen Satellitennavigationssysteme anerkannt. BeiDou kombiniert Navigation mit Kommunikation und bietet Notrufdienste sowie präzise Zeitübertragung.
Chang'e: Mondforschung in drei Schritten
Das Chinese Lunar Exploration Program (CLEP) folgt der Strategie „Umkreisen, Landen, Zurückkehren". Benannt sind die Missionen nach Chang'e (嫦娥), der chinesischen Mondgöttin.
Chang'e 1 & 2 (2007, 2010)
UmkreisenMondorbiter kartierten die Oberfläche und sammelten Daten. Chang'e 2 flog später am Asteroiden Toutatis vorbei.
Chang'e 3 & 4 (2013, 2019)
LandenChang'e 3 landete mit dem Rover Yutu (玉兔, Jadehase) im Mare Imbrium. Chang'e 4 vollbrachte am 3. Januar 2019 die erste Landung auf der Mondrückseite im Von-Kármán-Krater. Kommunikation erfolgte über den Relaissatelliten Queqiao (鹊桥, Elsterbrücke) am Lagrange-Punkt L2.
Weltpremiere: Erste Landung und Rovermission auf der erdabgewandten Mondseite.
Chang'e 5 & 6 (2020, 2024)
ZurückkehrenChang'e 5 brachte am 17. Dezember 2020 insgesamt 1.731 Gramm Mondgestein zur Erde zurück – die erste Probenrückkehr seit Luna 24 (1976). Die Mission umfasste Landung, Probensammlung, Start von der Mondoberfläche, Rendezvous im Mondorbit und Rückkehr zur Erde.
Chang'e 6 holte im Juni 2024 als erste Mission überhaupt Proben von der Mondrückseite und brachte sie sicher zur Erde.
Geplant: Chang'e 7 & 8
Chang'e 7 soll am lunaren Südpol landen und mit einem „Hüpf-Detektor" permanent beschattete Krater untersuchen. Chang'e 8 testet In-situ-Ressourcennutzung als Vorbereitung für die geplante International Lunar Research Station (ILRS), die China gemeinsam mit Russland aufbauen will.
Planetenforschung: Mars und darüber hinaus
Tianwen-1: Umkreisen, Landen, Rovern in einem Anlauf
Am 23. Juli 2020 startete Tianwen-1 (天问一号, Himmlische Fragen) zum Mars. Der Name stammt aus einem Gedicht des antiken Dichters Qu Yuan. Die Mission war außergewöhnlich ambitioniert: China wollte beim ersten eigenständigen Marsversuch orbiten, landen und rovern – eine Kombination, die selbst die USA nur schrittweise erreichte.
Verlauf der Mission
- 10. Februar 2021: Einschwenken in Marsorbit
- 15. Mai 2021: Landung in Utopia Planitia
- 22. Mai 2021: Rover Zhurong (祝融, Feuergott) rollt auf Marsoberfläche
- 11. Juni 2021: CNSA veröffentlicht erste hochauflösende Bilder
Bedeutung
China wurde zur zweiten Nation nach den USA, die erfolgreich einen Rover auf dem Mars betreibt. Die Tianwen-1-Mission erhielt 2022 den IAF World Space Award. Das Entwicklungsteam demonstrierte Fähigkeiten in atmosphärischem Eintritt, präziser Landung, Rover-Navigation und Datenkommunikation über 400 Millionen Kilometer.
Zukünftige Missionen
- Tianwen-2: Start 2025, Probenrückkehr vom erdnahen Asteroiden Kamo'oalewa
- Tianwen-3: Mars-Probenrückkehr mit zwei Starts (geplant ~2028–2030)
- Tianwen-4: Jupitersystem-Erkundung mit Vorbeiflug an Uranus
Long March: Die Trägerraketen-Familie
Die Long March-Raketenfamilie (长征, Langer Marsch) ist das Arbeitspferd des chinesischen Raumfahrtprogramms. Seit 1970 wurden über 400 Starts durchgeführt. Die Raketen werden von CALT (China Academy of Launch Vehicle Technology) und SAST (Shanghai Academy of Spaceflight Technology) entwickelt.
Klassische Generation
- Long March 2C/D/F: Arbeitspferde für LEO, starten Shenzhou-Kapseln
- Long March 3A/B/C: Geostationäre Transfers, BeiDou-Satelliten
- Long March 4B/C: Sonnensynchrone Orbits, Erdbeobachtung
Treibstoff: Hypergole (N₂O₄/UDMH) und kryogene Stufen (LH₂/LOX)
Neue Generation
- Long March 5: Schwerlastrakete, 25 t LEO / 14 t GTO, startet Raumstationsmodule
- Long March 6: Kleinrakete für kommerzielle Starts
- Long March 7: Mittlere Rakete, 13,5 t LEO, startet Tianzhou-Frachter
- Long March 8: Wiederverwendbare Komponenten in Entwicklung
Treibstoff: Umweltfreundlich (Kerosin/LOX, LH₂/LOX)
Long March 10 für Mondlandungen
Für bemannte Mondlandungen ab 2030 entwickelt China die Long March 10, eine neue Schwerlastrakete mit etwa 70 Tonnen Nutzlast zum Mond. Sie wird zusammen mit der neuen Mengzhou-Raumkapsel und einem Mondlandemodul das chinesische Pendant zum Apollo-Programm ermöglichen.
Die nächste Dekade: 2025–2035
Chinas Raumfahrtbehörde CNSA (China National Space Administration) hat ehrgeizige Ziele für die kommenden Jahre formuliert. Die bemannte Mondlandung bis 2030 steht im Zentrum. Parallel dazu wird Tiangong auf bis zu sechs Module erweitert, das Xuntian-Weltraumteleskop (巡天) mit 2-Meter-Spiegel startet 2026, und die International Lunar Research Station (ILRS) nimmt Gestalt an.
China positioniert sich als Alternative zur westlich dominierten Raumfahrt. Während die USA internationale Kooperation durch das Wolf Amendment einschränken, lädt China Partnerländer zur Zusammenarbeit ein. Pakistan wird 2025 den ersten ausländischen Astronauten zur Tiangong entsenden. Europäische Experimente sind bereits an Bord. Diese Strategie könnte China langfristig diplomatischen Einfluss verschaffen und die geopolitische Landschaft der Raumfahrt neu ordnen.
Von der Realität zur Science-Fiction: Liu Cixins Trisolaris-Trilogie
Während China seine reale Raumstation im Orbit betreibt, inspiriert das Weltraumprogramm auch Chinas bedeutendsten Science-Fiction-Autor. Liu Cixin (刘慈欣) gewann als erster asiatischer Autor den Hugo Award für seinen Roman Die drei Sonnen – den Auftakt zur monumentalen Trisolaris-Trilogie, die Chinas Raumfahrtambitionen in kosmische Dimensionen weiterdenkt.